Kapitel 1.9.: Der Tag, der alles veränderte

Der Tag, der alles verändern sollte, begann für Mama eigentlich so wie immer:
Sie unternahm einen kleinen Spaziergang durch das Dorf und plauderte mit ihren Freundinnen. Überall wurde sie herzlich begrüßt und es wurden Neuigkeiten ausgetauscht. Nachdem sie kurz das Übliche mit dem Lebensmittelhändler besprochen hatte, saß sie auf ihrer liebsten Bank und genoss die Sonne, so, wie sie es jeden Morgen tat.

Ob sie etwas geahnt hat? Sie saß erst seit ein paar Monaten täglich hier und schaute dem geschäftigen Treiben auf dem Marktplatz zu, berichtete mir Agnes Knautschgesicht. 

Sie kam zurück nach Hause und zog sich um, da es ihr zu heiß geworden war. Anschließend machte sie sich erneut auf den Weg zum Marktplatz, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Sie wollte wohl gerade zurück nach Hause gehen, da fing sie an zu taumeln und brach zusammen. 

Einfach so, mitten auf dem Marktplatz! Holly rief mich an und Roger und ich eilten zu ihr herüber aus dem Haus. Es war schrecklich, sie so da liegen zu sehen! Zum Glück waren Christian und Maggie noch in der Schule! 

Ich war total panisch, als ich dort eintraf. Es war ein riesiges Chaos. Alle redeten wild durcheinander, schauten aufgeregt umher, suchten Unterstützung oder waren einfach nur sprachlos. Die entsetzten Gesichter werde ich niemals vergessen.

„Ein Arzt!“, schrie Holly und sah sich mit weit aufgerissenen, tränenüberstömten Augen um. Ihre Schminke war schon ziemlich verschmiert und ihr sonst so hübsches Gesicht glich einer Fratze. „Ist denn hier kein Arzt in der Nähe?? Hilfe!!!“. Plötzlich sprang Agatha Knautschgesicht beherzt nach vorne. Sie war die erste, die ihre Schockstarre überwunden hatte, ging auf die Knie und versuchte, Mama mit gezielten Griffen zurück zu holen. „Steht nicht so rum!! Packt gefälligst mit an jetzt!“, mahnte sie. Und ich erkannte schnell, dass sie dies nur durch ein Wunder überleben würde.

„Herr, bitte hilf uns, sie darf nicht sterben!“, rief ich. Wie aus einem Impuls heraus betete ich für sie. Aus tiefstem Herzen. Mama sagte mir früher einmal, dass alles wahr werden könnte, wenn man es sich nur von ganzem Herzen wünschen und daran glauben würde. Ich wollte, dass sie lebte!! Die Worte sprudelten nur so aus meinem Mund heraus und ich hörte nicht mehr auf, während sie reanimiert wurde. „Oh bitte, bitte, bittee!!“, schluchzte ich. Um ehrlich zu sein habe ich das noch nie in meinem Leben getan. Ich war noch nicht ein einziges Mal in der Kirche!! Aber das waren die schrecklisten Minuten meines Lebens! Ich kam mir so hilflos vor, so ausgeliefert und ohnmächtig.

Es waren endlose Minuten. Agatha mühte sich ab, schrie, wir sollten gefälligst ruhig sein, sie müsse sich konzentrieren und zählen. Die Schweiß rann ihr beim Pressen auf Mamas Brustkorb in Strömen vom Gesicht. Es war unerträglich heiß. Und irgendwie so surreal. In der Ferne hörte ich die Vögel zwitschern. Roger stand wie benebelt da und rührte sich nicht! Ich heulte und betete und heulte und betete. Ich weiß nicht mehr, was ich sagte, ich weiß nur, dass ich nicht aufhörte zu schreien und sich mein ganzer Körper verkrampft hatte. Mein Gesicht schmerzte und mein Herz klopfte wie in meinem schlimmsten Albtraum. Aber es war mein schlimmster Albtraum. Es war nur leider die bittere Wirklichkeit.

Und dann geschah das Unglaubliche: Ich hörte noch etwas Knacken und dann traute ich meinen Augen nicht! Mama fing plötzlich an zu zucken und zu keuchen. Es war, als wäre der Blitz durch ihren Körper geschossen!! Genau so wie an Marlas 18. Geburtstag, als Tante Debbie zusammengebrochen war und Mama sie reanimiert hatte! Erst waren alle ganz still und starrten sie nur an. Dann fingen sie an zu jubeln und weinten noch mehr. Vor Freude! Roger wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, so erschüttert und überwältigt war er. Irgendjemand fing ungläubig an zu lachen.

Mama öffnete die Augen und sah uns alle verwirrt an. Sie hob die Hände, so als wolle sie aufstehen und wir halfen ihr hoch. Mittlerweile waren nun auch die Sanitäter angekommen. Mama fragte uns alle, was los sei und warum in Gottes Namen wir so weinten. ‚In Gottes Namen‘ sagte sie. Ist das nicht verrückt?! Ich wusste überhaupt nicht, was los war, aber meine Gefühle überkamen mich so, ich musste sie sofort in den Arm nehmen und ganz fest drücken. Ich heulte wie ein Schlosshund und zitterte, als ich ihre warme, weiche Haut an meinem Körper spürte. Ihren Duft einatmete. Von dem Shampoo, das wir schon benutzen, seit ich denken kann. Nie wieder wollte ich aufhören, an ihren Haaren zu riechen. „Elisa, was um Himmels Willen ist denn los mit dir??“, fragte sie überrascht. „Nichts, Mama“, seufzte ich überglücklich. „M..mir geht es gut!“. 

Roger versuchte sich auch so gut es ging wieder zu fassen. Er sah schrecklich aus und klammerte sich verzweifelt an sie. Er riss sie an sich und küsste sie, als er ihr Gesicht in seinen Händen hielt auf Augen, Stirn, Nase, Wangen und Mund. „Oh, Greta!! Oh, Greta!!“, rief er immer wieder. Dabei weinte er unaufhaltsam. In diesem Moment habe ich erst begriffen, was Mama und unsere kleine Familie ihm bedeutet. Ihm, der bis dahin wirklich niemanden hatte. Ihm, dem Mama alles gegeben hat, was er sich so sehnlichst erträumt hatte. Bedingungslose Liebe, ein Zuhause, eine Familie, einen Sohn. Sie war die erste Person in seinem Leben, die ihn so akzeptierte, wie er ist. 

Ich konnte diesen Moment, diese Umarmungen plötzlich nicht mehr ertragen. Ich versuchte stark zu sein, sodass es mir niemand anmerken würde. Aber ich war so erschüttert von dem, was mir an diesem Tag bewusst wurde: Wenn Mama nicht mehr lebt, dann ist Roger verloren. 

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